Kapitel 25
Gideon zügelte Salomo hart und sprang von seinem Rücken, bevor sich der Staub legen konnte.
„Juan!“, rief er dem Mann entgegen, der aus der Tür der Schlafbaracke trat. „Nimm dir ein frisches Pferd. Ich brauche deine Hilfe auf der oberen Weide.“
Der vaquero kam den Anweisungen unverzüglich nach.
„Was ist denn los?“ James eilte neben Gideon her, als der in Richtung Schafstall rannte.
„Dreißig Schafe wurden abgeschlachtet, das ist los.“ Gideon stieß die Tür so hastig auf, dass sie gegen die Wand prallte. Rasende Wut brannte in ihm wegen des Massakers, das er entdeckt hatte. Als im letzten Monat sein Zaun zerschnitten worden war, hatte Gideon vermutet, dass es sich nur um einen hinterhältigen Cowboy handelte. Doch das hier war etwas völlig anderes. Das war eine mit voller Absicht durchgeführte Gräueltat.
Gideon griff nach einer großen Dose Wundsalbe. Die überlebenden Schafe brauchten Hilfe. Er stürmte wieder ins Freie und rannte beinahe James über den Haufen, der dort auf ihn wartete.
„Warte einen Moment, Gid.“ James legte seinen Arm auf seine Schulter, doch Gideon schüttelte ihn ab.
„Bis zum Sonnenuntergang dauert es nur noch wenige Stunden. Ich muss weg.“ Die Wut in seinen Worten war nicht zu überhören, während er die Salbe in die Satteltasche seines Pferdes warf.
„Und was ist, wenn es eine Falle ist? Hast du daran schon gedacht?“, rief James ihm hinterher. „Wenn es Petcheys Tat ist, spielst du dem Kerl nur in die Hände, wenn du hinausreitest. Er könnte währenddessen versuchen, an Isabella heranzukommen.“
Gideon stieß einen Seufzer aus und wandte sich seinem Freund zu.
„Ja“, gab er zu. „Das habe ich auch kurz überlegt, aber ich glaube nicht, dass Petchey dahintersteckt. Wir hatten vor einem Monat schon einen ähnlichen Fall. Jemand hatte an genau der gleichen Stelle unseren Zaun zerschnitten. Wahrscheinlich ist der Kerl von damals zurückgekommen, berauscht vom Erfolg seiner ersten Tat. Letztes Mal haben wir ein Dutzend Schafe verloren, weil der Kerl in die Luft geschossen hat, um die Tiere zu erschrecken. Dieses Mal ist er auf einen Baum geklettert und hat sie von da aus erschossen. Ich habe Patronenhülsen gefunden. Er hat meine Schafe als Zielscheibe benutzt.“
Gideon knirschte wütend mit den Zähnen.
„Ich stimme dir zu, dass es eine abscheuliche Tat ist“, sagte James, „aber was ist, wenn es sich nicht um den gleichen Täter handelt? Willst du wirklich eine Zielscheibe für Petchey abgeben?“
„Nein. Will ich nicht. Deshalb bin ich zurückgekommen und habe Juan geholt.“ Als hätte er seinen Namen gehört, führte der vaquero in diesem Moment eine dunkelbraune Stute aus dem Stall. Gideon nickte, als Juan die Zügel ergriff und sich in den Sattel schwang. Im Gegensatz zu Cowboys, die tagtäglich im Sattel saßen, waren die Schafhirten der Gegend eher zu Fuß unterwegs. Doch wenn Eile geboten war, waren sie alle gute, waghalsige Reiter.
Gideon wandte sich wieder an James. „Ich reite nur mit ihm raus, um mich um die Kadaver zu kümmern, dann komme ich sofort zurück. Juan bleibt über Nacht draußen und versorgt die Verletzten. Ich vertraue darauf, dass du dich um meine Mädchen kümmerst, solange ich nicht da bin. Ich bete zu Gott, dass ich nicht die falsche Entscheidung treffe, aber wenn doch, musst du dich zwischen Isabella und ihren Onkel stellen, bis ich zurückkomme.“
„Das mache ich.“
Überrascht, da diese Antwort von einer weiblichen Stimme kam, drehte sich Gideon um.
„Adelaide?“
Er hatte nicht gemerkt, dass sie zu ihnen getreten war. Wie viel hatte sie von dem Gespräch mitgehört.
„Er wird nicht an uns vorbeikommen, Gideon.“ Sie stand aufrecht vor ihm, die Entschlossenheit stand ihr in ihr wunderschönes Gesicht geschrieben. „Isabella kann sich im Unterrichtszimmer verstecken. Sie versteht jetzt, dass sie in Gefahr ist, und ich bin sicher, dass sie auf mich hören wird. Ich kann auch mit einer Waffe umgehen, wenn es nötig sein sollte. Mein Vater hat dafür gesorgt, dass ich das treffe, worauf ich ziele.“
Der Gedanke an Adelaide in einem Schusswechsel schnürte ihm den Hals zu. Was stimmte nicht mit ihm? Er hatte den dringenden Wunsch, sie nicht allein lassen zu müssen. Lieber würde er seine gesamte Herde verlieren.
Doch James war ja da, um sie zu beschützen. Im Haus würden Adelaide und Isabella sicher sein. Seine Schafe waren draußen im Freien und mussten vor Raubtieren geschützt werden, die durch den Blutgeruch der toten Tiere angezogen wurden. Juan würde es allein nicht schaffen, die Kadaver zu beseitigen, bevor es dunkel wurde.
Außerdem hatte er die Gegend untersucht, als er das Massaker entdeckt hatte. Alles sprach dafür, dass der Angreifer nicht mehr in der Nähe war. Selbst wenn Reginald hinter dem Anschlag steckte – und davon war Gideon immer noch nicht überzeugt – hätte er zumindest einen Posten aufstellen müssen, der ihm Bescheid gab, sobald Gideon auf der Weide auftauchte. Nur wenige Bäume in der Umgebung waren groß genug, sodass sich ein Mann dahinter verstecken oder in die Äste klettern konnte. Gideon hatte überall nachgesehen. Er hatte keinen Hinweis darauf gefunden, dass sich in letzter Zeit jemand in der Nähe aufgehalten hatte.
„Eine Stunde oder zwei ist alles, was ich brauche.“ Er war unsicher, ob er Adelaide oder sich selbst gut zuredete. „Zum Abendessen bin ich zurück.“ Nur so konnte er ihr und Juan helfen.
James starrte ihn immer noch finster an, akzeptierte Gideons Entscheidung aber mit einem knappen Nicken. Er schwang sich das Gewehr über die Schulter und ging einen Schritt in Richtung Haus. „Ich halte von der Veranda aus Wache und bitte Chalmers, aus der Küche den hinteren Hof zu beobachten.“
„Aus dem Unterrichtszimmer im dritten Stock hat man einen guten Rundumblick“, erklärte Adelaide James, als sie mit ihm auf das Haus zuging.
„Adelaide, ich ...“ Gideon wusste nicht, was er sagen sollte, also starrte er sie einfach nur an. Sie hätte sich auf ihn verlassen sollen – nicht andersherum. Er fühlte sich so hilflos. Er musste an zwei Orten gleichzeitig sein. Doch das konnte er nicht. Auf der Suche nach einer Erklärung ballten sich seine Hände zu Fäusten. Doch Adelaide schien gar keine weiteren Erläuterungen zu verlangen. Sie sah ihn an, als würde sie seine Entscheidung verstehen und gutheißen. Ihr Vertrauen beruhigte den Sturm in seinem Inneren und stärkte seine Entschlossenheit.
Juans Sattel knirschte, als er sich nach vorne lehnte und Gideons Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Ich gehe schon mal und kümmere mich um meine kleinen Ladys, patrón. Ich treffe Sie am arroyo pequeño, sí?“
Gideon winkte. „Sí.“ Salomo und er würden den Hirten bald eingeholt haben. Gideon wusste, dass es Juan ein Anliegen war, möglichst schnell nach den Tieren zu schauen. Juans Pferd preschte vom Hof. Gideon wandte sich wieder an Adelaide.
„Ich will dich nicht allein lassen, Adelaide. Auch nicht kurz. Wenn dir oder Bella etwas passiert – “
„Schhh.“ Sie trat an ihn heran und legte ihm den Zeigefinger auf den Mund. Ein Zittern durchfuhr seinen Körper bei dieser zärtlichen Geste. Sie schien einverstanden zu sein, dass er sie so vertraulich anredete.
„Gestern und vorgestern ist auch nichts passiert, als du weg warst, um nach den Schafen zu schauen. Und auch heute wird nichts passieren. Du tust das Richtige.“
Ihr Vertrauen in ihn vertrieb endlich den Rest seiner Zweifel. Ihre Worte waren genau das, was er brauchte. Sie war genau das, was er brauchte.
Er legte seine Hand auf die ihre und wünschte sich, er könnte ihre weiche Haut durch das Leder seiner Handschuhe hindurch berühren. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht. Ihr schien der Atem zu stocken, doch sie wandte die Augen nicht ab. Vorsichtig legte sie ihre Hand an seinen Brustkorb, genau an die Stelle, wo sein Herz war. In diesem Moment wusste er, dass sie zueinandergehörten.
Gideon beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Bleib in Sicherheit, Adelaide“, flüsterte er in ihr Haar. „Was auch immer geschieht, bleib in Sicherheit.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, riss er sich von ihr los und stieg auf Salomo. Er trieb das Pferd an. Sein Mund verzog sich zu einer grimmigen Linie. Eine Stunde. Er würde Juan eine Stunde helfen. Dann würde er wieder nach Hause kommen und sich um seine Familie kümmern.
* * *
Die eine Stunde wandelte sich in zwei, als klar wurde, dass es nahezu fünfzig Schafe getroffen hatte. Gideon arbeitete Seite an Seite mit Juan, um die Schafe in ein Massengrab in einer kleinen Schlucht zu werfen, doch als es anfing zu dämmern, wies er den vaquero an, sich um die verletzten Tiere zu kümmern, und beendete die unangenehme Aufgabe allein.
Blut und Staub hingen an seinen Kleidern und mischten sich mit dem Schweiß seiner Arbeit. Der Geruch des Todes stach ihm in die Nase. Es war so eine Verschwendung. So eine sinnlose Verschwendung. Er nahm seinen Hut ab und wischte sich die Stirn mit dem Hemdsärmel ab, während er beobachtete, wie der Himmel sich von Westen her rot färbte. Er musste schnellstmöglich zurück.
Gideon wickelte das Seil, mit dem er Salomo angebunden hatte, sorgfältig auf und verstaute es in den Satteltaschen. Plötzlich legte das Tier die Ohren an und fing aufgeregt an zu tänzeln. Sein Kopf wandte sich in Richtung Westen, weg von Juan und den Schafen. Gideon tätschelte den Hals seines Tieres und entsicherte sein Gewehr. Er wandte sich um und suchte die Umgebung nach einer Gefahr ab, doch die letzten Sonnenstrahlen blendeten ihn. Falls der Schütze zurückgekehrt war, hatte er seinen Standort klug gewählt.
Er zog die Krempe seines Hutes so tief ins Gesicht, dass sie seine Augen beschattete, und sah sich noch einmal um. Zu seiner Linken lagen ein paar große Felsbrocken. Gideon verstärkte den Griff um seine Waffe. Eine Bewegung ließ ihn stutzen. Sofort legte er das Gewehr an die Schulter. Er spähte am Lauf entlang. Der Schweif eines Pferdes lugte hinter einem der Felsen hervor und schlug durch die Luft. Juan hatte gesagt, dass das Pferd des nächtlichen Schützen vor einem Monat bunt gewesen war. Dieses hier war eindeutig schwarz. Kalte Angst sank in Gideons Magen.
„Adelaide.“ Der Name kam ihm im selben Augenblick über die Lippen, in dem ein Schuss erklang.